Die internationale Programmreihe «Fokus» diskutiert über ein aktuelles Thema. In diesem Jahr geht es um die Rolle des Schauspiels in unserer hypermediatisierten Gesellschaft. Jeder und jede kann sich heute selbst inszenieren – mit welchen Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft?
Das Schauspiel und die Art und Weise, wie und wo man es wahrnimmt, hat sich im vergangenen Jahrzehnt stark verändert. Soziale Medien wie TikTok oder Instagram, aber auch die unzähligen Castingshows fordern uns nicht nur auf, unterschiedlichste Rollen zu spielen, sondern sie führen uns auch immer vor Augen, dass wir permanent Menschen beim (Schau)Spielen zuschauen. Gleichzeitig haben sich die Arbeitsbedingungen und Anforderungen an Schauspielerinnen und Schauspieler verändert, wovon nicht zuletzt der Streik der Schauspiel-Gewerkschaft in Hollywood zeugt. Der diesjährige «Fokus» wirft darum ein Schlaglicht auf die Bedeutung des Schauspiels in unserer Gesellschaft. Mit welchen Herausforderungen sehen sich Schau spieler:innen konfrontiert? Wie sieht eine zeitgemässe Ausbildung aus? Und wie reagieren Filmschaffende auf diese Umstände?
Vor der Kamera
In «Actress» (2014) begleitete Robert Greene die Schauspielerin Brandy Burre dabei, wie sie nach mehreren Jahren Pause versucht, in ihrem Beruf wieder Fuss zu fassen. Ein scheinbar klassischer Dokumentarfilm, der jedoch die Frage stellt, was es bedeutet, einen Film über eine Schauspielerin zu drehen. Was geschieht, wenn die Person vor der Kamera genau weiss, wie sie sich dieser gegenüber zu verhalten hat? Über das Zusammenspiel zwischen der Kamera und der eigenen Wahrnehmung geht es auch in Bruno Dumonts «France» (2021). «France» ist ein Essay in Form eines Spielfilms über die Produktion und Rezeption von Bildern, in deren Mittelpunkt die Star-Aura der Hauptdarstellerin Léa Seydoux steht.
Eine Frage der Authentizität?
Nicht nur in der Literatur, sondern auch im Kino hat sich autofiktionales Erzählen zu einem populären Genre entwickelt. In «Oxhide» (2005) inszeniert die chinesische Filmemacherin Liu Jiayin sich und ihre Eltern als leicht fiktionalisierte Versionen ihrer selbst. Mit «In Our Day» (2023) schreibt Hong Sang-soo sein autofiktionales Kino leichtfüssig fort und erzählt zwei Geschichten, die sich rätselhaft überlagern und in denen es nicht zuletzt um die Frage einer schauspielerischen Authentizität geht.
Die Frage der Authentizität wirft Implikationen auf, die weit über den Film hinausgehen. Je mehr jede Form der unwiderlegbaren Wahrheit in Frage gestellt wird, desto stärker scheint eine vermeintliche Authentizität zum alles entscheidenden Kriterium zu werden. Politik und Film sind von dieser Tendenz nicht ausgenommen. Um auf der Leinwand, einer Bühne oder bei einer Wahlveranstaltung zu überzeugen, muss man «authentisch» sein, wovon auch der französische Dokumentarfilm «Municipale» (2021) erzählt: Ein Schauspieler tritt als Kandidat für das Amt des Bürgermeisters an und zieht in der Folge das ganze Dorf in den Wirbel einer politischen Fiktion. Leben wir in einer spielwütigen Gesellschaft?
- Hannes Brühwiler, Programmverantwortung Fokus