Biopics erobern derzeit Festivals, Kinos, Streaming- und Fernsehprogramme. Woher kommt die Nachfrage? Welche Lebensgeschichten brauchen wir und wozu? Die internationale Programmreihe «Fokus» widmet sich dieses Jahr biografischen Filmen.
Auf den diversen Hitlisten der «besten» Filme und Serien der letzten Jahre rangieren Biografien ganz oben. Bob Marley, Susan Sontag, Emil Steinberger – jede Woche kündigen sich neue an. Der Ruf des Genres bleibt trotzdem schlecht. «Von der Krippe bis zum Grab» – so ein verbreitetes Vorurteil – erzählten Biopics immer wieder dieselben Geschichten und bedienten ein längst überholtes Geschichts- und Menschenbild: Die Vorstellung, wenige bedeutende Persönlich- keiten (hauptsächlich Männer) entschieden über den Verlauf der Weltgeschichte. Der «Fokus» interessiert sich für diesen widersprüchlichen Trend. Worin liegt der Reiz «wahrer» Lebensgeschichten? Wie lassen sich Eintönigkeit und Geschichtsklitterung umgehen? Und was ist das überhaupt, eine Biografie?
Kunstfiguren
Im Autorenfilm wird das Label «Biopic» gern vermieden. Kirill Serebrennikov zum Beispiel betonte zur Premiere seiner Literaturverfilmung «Limonov: The Ballad» in Cannes, der Film sei eine «Ballade», er erzähle nicht das Leben des russischen Underground-Schriftstellers und späteren Nationalbolschewisten Eduard Limonov, sondern das einer Kunstfigur.
Doch wo genau verläuft die Trennlinie zwischen (fiktiver) Kunst und Historie? Lebensgeschichten sind immer eine Frage der Auswahl, Wahrnehmung und Deutung des Erlebten. Ist folglich nicht jede Filmbiografie eine aus gegenwärtigen Werthaltungen, Entwicklungen und Debatten geronnene Fiktion? Für Regisseur André Schäfer scheint das ausgemacht. Sein hybrider Dokumentarfilm «Bekenntnisse des Hoch- staplers Thomas Mann» vermischt den deutschen Literaturnobelpreisträger mit dessen literarischem Alter Ego Felix Krull und Haupt- darsteller Sebastian Schneider zu einem heutigen queeren Role-Model. Entscheidend sei die richtige Balance zwischen historischer Genauigkeit und künstlerischer Freiheit, erklärte Laila Stieler einmal sinngemäss. In einer Masterclass wird die mehrfach prämierte Drehbuchautorin von Andreas Dresens «In Liebe, Eure Hilde» und «Gundermann» berichten, wie sie in ihrer Arbeit diesen «Balanceakt» bewerkstelligt.
Neue Vorbilder
Filmbiografien lassen sich auch von «unten» nutzen. «Gegenhegemoniale Interventionen» nennt Filmwissenschaftlerin Belén Vidal den Einsatz von Lebensgeschichten in identitätspolitischen Kontexten. Milisuthando Bongelas autobiografische «Meditation» über ihre Kindheit in der Republik Transkei, dem während der Apart- heidregierung für unabhängig erklärten «Homeland» des Xhosa-Volkes, knüpft an diese Tradi- tion an. Und «Chiara», nach «Nico» und «Miss Marx» Susanna Nicchiarellis drittes Biopic über eine bedeutende Frau im Schatten eines (vielleicht überschätzten) Mannes, verhandelt an seiner mittelalterlichen Heldin Klara von Assisi ökofeministische Ideen der Gegenwart.
Schubladen
Wer verdient eine Biografie? Wie nähert man sich politisch zweifelhaften oder radikalen Personen erzählerisch, aber auch ganz konkret mit der Kamera, ohne die kritische Distanz zu verlieren? Und was, wenn eine Person in keine der gängigen ideologischen Schubladen passt, wie die transsexuelle, rechtslibertäre österreichische Genderaktivistin und ehemalige Elitesoldatin Monika Donner, Protagonistin von Paul Poets Dokumentarfilm «Der Soldat Monika»? Der im Mai verstorbene Dokumentarfilmer
Thomas Heise würde wahrscheinlich antworten, dass man dann ganz einfach die Kommode mitthematisieren müsse, in der diese Schubladen stecken. «Barluschke», sein Porträt über einen Mehrfachspion und Familienvater, ist eine geradezu ikonische Auseinandersetzung mit den zentralen Fragen des diesjährigen «Fokus»: Wie erinnern wir uns? Was vergessen wir? Und – vielleicht noch wichtiger – was haben wir davon?
– Julia Zutavern