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Auge in Auge mit dem Jura

Autor:in

Elisa Shua Dusapin

Datum

7. November 2024

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Titelbild Auge in Auge mit dem Jura

Das Spezialprogramm zum 60. Geburtstag der Solothurner Filmtage ist dem Jurabogen gewidmet – einer Filmregion, die durch ihre dramatische Landschaft und künstlerische Kraft inspiriert. Mit dem Gasttext «Augen ohne Lider» öffnet uns Elisa Shua Dusapin ein Fenster in das Herz dieser Region.

Augen ohne Lider

Das Tor des Bootshauses stand weit offen. Am Ufer lag Aurora und besah sich den dünnen Blutstrom, der von ihrem Handgelenk bis in den Teich tröpfelte. Bald würde die Sonne aufgehen. Ein paar Meter weiter die Umrisse des Schlauchboots, ganz ruhig lag es da, die Angelruten erhoben wie die lauernden Greifer einer Gottesanbeterin. Sie stützte sich auf einen Ellenbogen, behielt das Ufer gegenüber im Blick. Im Halbdunkel liessen die letzten Häuser von Bonfol sich erahnen. Es war noch keine sechs Uhr, doch unter dem Einfluss der Wärme stiegen schon Gerüche auf, eine klebrige Mischung aus Benzin und Verwesung. Alles war ruhig.

Ihr Vater tauchte nicht wieder auf.

Auf den knirschenden Kieseln rollte Aurora in eine andere Position. «Wer blutet, taucht nicht, hatte ihr Vater gesagt. Blut zieht die Fische an. Vor allem Kinderblut. Die fressen sie mit einem Happs.» Sie war zu alt, um das noch zu glauben, und doch hatte sie nichts darauf erwidert, als er sie zum Kai zurückbrachte und ihr auftrug, die Umgebung zu überwachen. Der Haken war schneidend scharf. Gerade deshalb. Hatte sie nicht bewusst daran gerieben, um herauszufinden, ob sie noch Blut, diesen Saft, der Sauerstoff binden konnte, im Körper hatte? Das fragte sie sich, während sie auf ihn wartete, reglos dalag und gegen den Schmerz ihren Arm ins Wasser hielt.

Mit ihrer gesunden Hand schaute sie auf dem Handy nach der Uhrzeit. Das weit offen stehende Tor beschäftigte sie. Der Himmel hellte auf. Jemand müsste zum Bootshaus zurück, um es zu schliessen. Fortan galt im gesamten Land das strenge Angelverbot. Sogar im Jura war jedes Boot nun verdächtig. Was zum Teufel machte ihr Vater? Er hatte nur Maske und Schnorchel. Die Krebsfalle, die er tags zuvor aufgestellt hatte, war nicht tief, er hatte den Ort markiert, dass er so lang brauchte, war nicht normal. Aurora kniff die Augen zusammen. Kein Wellenkräuseln am Boot. Das finstere Insekt schlief offenbar.

Plötzliches plätschernd erschien etwas an der Oberfläche, zappelte kurz, tauchte wieder ab. Aurora richtete sich auf. Inzwischen war die Gestalt wieder zu sehen, trieb ohne Bewegung dahin. Aurora durchfuhr der Gedanke, es könnte ihr Vater sein, und es wäre ihre Schuld, sie hätte auf ihn hören und sich vom Ufer fernhalten sollen, man konnte das Blut riechen und ihr Vater war unten im Wasser, er war zerrissen worden. Sie zwang sich zurück zur Vernunft und wartete, erstarrt, ohne den Blick von dem zu wenden, was langsam auf sie zutriebt, bis ans Ufer.

Es war ein grosser Fisch. Eine Hechtart, die sie nicht erkannte. Weisse Punkte sprenkelten ihn. Er schlug mit dem Schwanz, zappelte zwischen den Steinen. Der rosshaarige, weissliche Schwanz franste aus. Mit einem toten Ast, drehte Aurora das Tier um. Sie unterdrücke einen Schrei. Es hatte nur noch ein Auge. Glupschig hing es an einem Nerv, an dem sich Algen verfangen hatten, halb aus seiner Höhle. Wo der Haken sie erwischt hatte, zeigte die Lippe eine deutliche Wunde.

Aurora ging auf die Knie. Der Fisch versuchte, sein geschundenes Auge zu ihr zu heben:

- Kleines Mädchen...

- Du kannst sprechen!, rief sie aus.

- Ich habe keine Hände, mich zu befreien...

- Ich weiss, sagte sie ratlos. Wir wollten dir nicht wehtun... Aber wir haben solchen Hunger... Es ist so heiss ...

Der Fisch unterbrach sie:

- Ich bitte dich, lass mich einfach zum Ende kommen...

- Zum Ende von was?

- Lass mich vor dem Sterben meine Augen im Sand vergraben, wie all meine Brüder es auf dem Boden von Seen, Ozeanen, Meeren und Tümpeln tun.

Während er dies sagte, wand sich der Fisch zwischen den Steinen. Die kleinen Wellen färbten Auroras Hose schlammfarben ein. Sie näherte sich mit dem Gesicht, bis sie ihr Spiegelbild auf seinen Schuppen erkannte, ihr Spiegelbild das die Lymphe, die zäh aus all seinen Wunden floss, verzerrte.

- Warum verunstaltet ihr euch so?

Er sprach immer leiser weiter:

- Die Berge fallen trocken, das Wasser verdunstet, wir verschwinden, aber wir haben die Augen. Augen ohne Lider, die sich nicht schliessen lassen, Augen, die alles sehen.

Er schlug ein letztes Mal wuchtig mit dem Kopf und das Auge flog ab. Eine kleine Welle trug es Aurora vor die Füsse.

- Was kann ich damit tun?, stammelte sie und berührte den Fisch mit der Fingerspitze.

Sie wollte ihn vor dem Wellensog schützen. Er bewegte sich nicht mehr. Sie hielt ihn auf ihrer Hand. Und da sie nichts weiter mit ihm anzufangen wusste, liess sie ihn wieder los. Der kleine Leichnam versank im Schlamm.

- Aurora!

Sie hob die Augen und musste sie, von Schwindel ergriffen, wieder schliessen. Ihre Finger waren weiss geworden. Sie spürte sie nicht mehr. Ihr Vater rief sie erneut. Halb öffnete sie die Lider. Er hielt im Schlauchboot direkt auf sie zu. Winkte hinüber zum Bootshaus. Sie antwortete mit einem Nicken. Sonne hatte sich auf den Tümpel ergossen, er explodierte in Licht. Aurora stellte sich auf die Beine. Mit der Hand über den Augen machte sie einige Schritte ins Wasser. Je tiefer sie hineinging, um so feiner wurde der Kies, wurde zunehmend weicher. Bald war es nur noch Sand, bald Staub.

- Elisa Shua Dusapin

 

Originaltext: französisch, Übersetzung: Andreas Jandl

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