Was wäre, wenn alle Filme vor leeren Sälen liefen? Wie würde es dem ersten und dem letzten Zuschauer in einem dieser Kinos ergehen? Ein Gedankenspiel zur Fokusreihe «Publikumsfantasien».
Zuerst habe ich mir ein leeres Kino vorgestellt. Das war nicht allzu schwer in diesen Tagen. Ein leeres Kino, in dem ein Film läuft. Die Türen sind abgesperrt, und niemand sitzt vor der Leinwand, aber ein Film läuft. Irgendein Film. Ein Tonfilm, denn man hört Stimmen im Foyer hallen. Ich habe mir vorgestellt, dass überall Filme gezeigt werden, auch wenn niemand zusieht. In der ganzen Stadt würden Filme in leeren Kinos gezeigt werden. So wie man darüber lesen kann, dass sie Flugzeuge fliegen, selbst wenn niemand drin sitzt.
Die Filme müssen gezeigt werden, das ist keine Frage. Das war schon die Auffassung von Henri Langlois, dem ehemaligen Direktor der Cinémathèque française. Lieber einen Film bis zur totalen Abnutzung spielen, als ihn in irgendeinem Kämmerchen zu beschützen und zu vergessen. All die Stimmen und Bilder, die wie Zeugen längst vergangener Zeiten auf Film gespeichert wurden. Sie sind wie das Leben selbst vom Vergessen bedroht. Alles verschwindet. Die Vergänglichkeit ist in das Medium eingeschrieben. Das gilt für das Analoge und auch für das kurzlebigere Digitale. Aber ohne Zuschauer? Ich habe mir vorgestellt, dass in jedem Kino der Stadt Filme gezeigt werden, selbst wenn niemand ins Kino geht. Dann wanderte ich durch die Stadt, als wäre sie ein riesiges Bücherregal mit ungelesenen Schätzen, nach denen ich nur greifen musste. All die hinter verschlossenen Türen verschluckten Lichter, all die dumpfen, nach draussen drängenden Töne, die sich im Strassenlärm verlieren. Filmplakate, die niemandem mehr etwas sagen. Strahlende Fischerleuchten, die niemanden locken.
Ich habe mich gefragt, ob das etwas bedeuten würde. Ich habe mich gefragt, ob die Filme dann etwas bedeuten würden. Büchern sagt man das nach. Sie stehen verstaubt im Regal und hüten ihre Geheimnisse, bis sie geöffnet werden. Sie gelten als Wissensträger. Mit Filmen ist das schwieriger. Auch wenn sie einst an ein Objekt gekoppelt waren, ja sogar mit ihm gleichgesetzt wurden, existieren sie eher als geistige Kategorie im gesellschaftlichen Bewusstsein. Sie ähneln eher den ohnedies unter und über und mit uns schwimmenden Bewegtbildströmen. Bilder, die nie abreissen. Bilder, die nie schweigen, auch wenn wir versuchen, sie zu ignorieren.
Trotzdem finde ich etwas Tröstliches in dem Gedanken an einen Film, der läuft, ohne dass er gesehen wird. Es heisst ja auch, dass ein Film «läuft». Das ist eine aktive Bewegung. Er wird nicht gelaufen, auch wenn das stimmiger wäre, weil ihn schliesslich wer starten muss. Ein Film, der läuft, obwohl niemand zusieht, lehnt sich gegen die Ignoranz der Menschen auf. Die anderen Bewegtbilder, also jene des Fernsehens oder der sozialen Medien zum Beispiel, unterscheiden sich vom Kino. Sie werden von der Angst getrieben, während es im Kino um Vertrauen geht. Hier klickt man sich fortwährend ins Verderben, und dort weiss man, dass es enden wird. In einem Kino findet man Zuflucht. Geht man ins Kino, kann man nur schwer gleichgültig bleiben. Man kann auch nicht weiterklicken. Gleichgültigkeit ist der Zustand der Heimbilder. Im Kino lassen mich nicht mal die Bilder kalt, die keiner sieht. Das sich entgegen seiner etymologischen Bedeutung ins Private zurückziehende Publikum kann nur noch mit den Schultern zucken. Die Augen sind längst geschlossen wegen all der Bilder. Wenn Filmemacher nach ihrem Publikum befragt werden, zucken sie meist auch mit den Schultern. Die anonyme Masse bleibt obskur. Von denen, die streamen, weiss man nicht mal mehr, wie lange sie einem Film beiwohnten.
Ich stelle mir also vor, dass in diesem einen Kino ein Film läuft, den niemand sieht und dann stelle ich mir vor, dass in allen Kinos gleichzeitig Filme laufen vor leeren Sitzen. Ich kann mir das eigentlich gar nicht vorstellen. Wie alle war ich noch nie in einem leeren Kino. Ich war dabei, wenn Filme getestet wurden. Aber selbst dann war ich ein Zuschauer. Jemand hat mir den Schlüssel zu einem dieser verschlossenen Kinos gegeben, in denen ein Film gezeigt wurde. Ich war ganz leise, als ich den Raum betrat. Ich wollte den Film nicht stören. Die Dunkelheit des Saals war die gleiche wie bei jedem anderen Kinobesuch. Mit gebanntem Blick auf die Leinwand stolperte ich zu meinem Sitz, irgendeinem Sitz, die Sitze sind alle gleich, sie waren alle frei, aber doch gab es keine Wahl, es musste dieser sein. Ich sah den Film. Ich war der erste Zuschauer. Marguerite Duras hat einmal über mich geschrieben: «Man müsste versuchen, vom Zuschauer zu sprechen, vom ersten Zuschauer. Den man als kindlich bezeichnet, der ins Kino geht, um sich zu amüsieren, um eine angenehme Zeit zu verbringen, und es dabei bewenden lässt.»
Duras hat auch geschrieben, dass man die Mehrzahl der Filme, die man sieht, vergisst. Filme, die vergessen werden, sind auch ein bisschen so, wie Filme, die keiner sieht. Ich stelle mir vor, dass ich der erste Kinozuschauer wäre. Ich hätte noch keinen Geschmack. Algorithmen könnten mir keine Empfehlungen geben basierend auf dem, was mir bereits gefallen hätte. Niemand könnte mir etwas empfehlen, weil nur ich jemals einen Film gesehen hätte, diesen Film in diesem Kino. Ich stelle mir vor, was das für ein Film wäre und stelle fest, dass das egal wäre. Ich würde jeden Film mit den gleichen Augen sehen. Das Kino, die Leinwand, die Tatsache von bewegten Bildern auf der Leinwand, das wäre das, was bleiben würde. Ich frage mich, ob dieser erste Zuschauer reicht. Bräuchte man nicht zumindest zwei Zuschauer? Den ersten und den letzten Zuschauer? Jean Renoir hat einmal gesagt, dass er im Kino immer zugleich unter Menschen und ganz allein wäre. Er hat das Kino als öffentliche Kunst verstanden, die uns intim zuflüstert.
Ich habe mir vorgestellt, der letzte Zuschauer zu sein. Warum wäre ich der letzte Zuschauer? Vielleicht weil die Menschen müde geworden wären vom Kino. Aber das kann eigentlich nicht sein, weil immer irgendwer erwacht, wenn andere einschlafen. Dann vielleicht, weil sie die Kinos endgültig abreissen würden. Was wäre der letzte Zuschauer für ein Zuschauer? Würde er sich noch interessieren für das, was er sieht? Wäre nicht die Tatsache, dass er der letzte wäre, der je einen Film sehen würde, grösser, als alle Filme, die man ihm zeigen könnte? Maurice Blanchot beschrieb den letzten Menschen einmal als unverantwortlich, unschuldig und unnötig. Ich frage mich, ob es einen unnötigen Zuschauer geben kann. Es gibt sicher mehr unnötige Filme als unnötige Zuschauer. Was würden der erste und der letzte Kinozuschauer besprechen? Der erste Kinozuschauer würde nur in der Vergangenheit existieren, der letzte Zuschauer wäre schon fast verblasst, als hätte es ihn nie gegeben. Das Kino, würde der erste Kinozuschauer vielleicht sagen, ist ein Wunder. Es beginnt mit jeder Vorführung neu. Alles existiert im Hier und Jetzt, egal wann die Dinge vor sich gingen. Das mag sein, würde der letzte Kinozuschauer entgegnen, aber es ist bereits tot. Alles ist nur in der Vergangenheit, die Gegenwärtigkeit ist eine luftige Illusion aus Licht und Schatten. Ich weiss nicht, ob ein Film einen dieser beiden Zuschauer erreichen könnte. Mir fällt kein Film ein, der diesen beiden Zuschauern entspricht. Ich stelle mir vor, dass den Filmen egal ist, wer sie sieht. Sie laufen. Befreit von ihrer gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedeutung laufen sie wie ein Hamster im Rad.
Ich stelle mir die Filme als Sisyphos vor. Ich gebe zu, dass sie schön sind, wenn sie nichts mehr bedeuten. Niemand würde sie sehen, sie wären befreit von den Blicken, die ihnen Bedeutungen zuschreiben. Trotzdem bleiben sie unvorstellbar ohne Zuschauer. Ich stelle mir vor, wie sie einen von Maschinen produzierten Film für ein aus Robotern bestehendes Publikum projizieren. Im Film sind Menschen zu sehen. Die Roboter verstehen nichts. Sie analysieren die Figuren und die Geschichte, zählen die Einstellungen und erkennen die Musik. Sie folgen dem, was der Film ihnen emotional vorlebt, manche Roboter weinen gar. Aber sie verstehen nicht. Sie haben sich nicht für einen Film entschieden, weil sie über ihn gelesen hatten oder ihnen der Titel schön vorkam. Sie sind nicht zum Kino spaziert oder mit der Strassenbahn oder dem Rad gefahren. Sie haben sich nichts vorgestellt. Sie haben nicht gewartet im Kino auf den Beginn des Films. Sie haben nach dem Film nicht in der Kälte gestanden und sie wussten nicht nicht, was sie sagen sollten. Sie sind auch nicht nach Hause gefahren und schon gar nicht haben sie vom Film geträumt. Sie haben nicht mal erfahren, wie schön es sich anfühlt, wenn man langsam, fast unbemerkt einen Film vergisst. Irgendwer, hat Marguerite Duras einmal gesagt, würde immer lesen. Selbst wenn es keine Literatur mehr gäbe, würde wer kommen und ein Buch ausgraben und dann würde dieser Mensch lesen. Für das Kino lässt sich das gleiche hoffen.
Patrick Holzapfel arbeitet als Autor, Filmemacher und Kurator. Er betreibt die Website «Jugend ohne Film», arbeitet für die Viennale und schreibt derzeit an seinem Debütroman «Hermelin auf Bänken».